Tödliche Entscheidung?

Tödliche Entscheidung?

Jan 16, 2022

„Rahel?“

Ihre Augen starrten ins Leere. Die Gedanken waren abgeschweift.

Nicht zum ersten Mal.

„Rahel!“

Es gab Phasen, in denen sie es gut unter Kontrolle hatte. Und dann gab es Phasen wie diese. Phasen, in denen sie ihre Gedanken und Erinnerungen nicht unter Kontrolle hatte. In denen der innere Kampf verloren schien.

„Rahel, ich rede mit dir!“

Die Bilder in ihrem Kopf verschwammen. Zum Glück. Ihre Umgebung wurde klarer und sie schaute in Nadjas besorgtes und leicht verärgertes Gesicht.

„Alles in Ordnung?“, fragte Nadja. „Sicher, dass du deine Therapie nicht wieder aufnehmen willst?“

Rahel schüttelte kurz aber entschlossen den Kopf und senkte den Blick. Sie brauchte keinen Psychiater mehr, der ihr irgendwelche Fragen stellte, wie sie sich fühlte und ihr vorschlug, sie solle sich doch endlich selbst vergeben. Nichts davon sei ihre Schuld. War das wirklich so?

Ja, Herr Dr. Dr. Summa cum Laude. Für Sie mag das alles so einfach sein, aber was wissen Sie schon von der Realität? Sie waren nicht dort. Sie haben noch nie solche Dinge gesehen. Höchstwahrscheinlich haben Sie den Wehrdienst sogar im friedlichen Deutschland verweigert. Zutrauen würde ich’s Ihnen.

Rahel kannte Nadja nun schon seit einigen Monaten. Beide studierten Internationale Sicherheit auf Master-Abschluss, ein Studiengang, den Rahel nach ihrer Wehrpflicht beim israelischen Militär besonders interessant gefunden hatte, da sie mit einem solchen Abschluss in ihrer Heimat durchaus eine interessante berufliche Karriere erwarten konnte.

Zwar wollte sie nicht wieder zurück ins Militär (die zwei Pflichtdienstjahre hatten ihre Spuren hinterlassen), aber eine Funktion als externe Beraterin konnte sie sich absolut vorstellen. 

Um vorerst jedoch möglichst viel Distanz zwischen sich und ihre militärische Vergangenheit zu bringen, hatte sie sich für das Studium im Ausland entschieden. Viele hatten sie fragend angeschaut, als sie bekannt gab, dass sie sich an einer deutschen Uni eingeschrieben hatte.

Ausgerechnet Deutschland. Das Land, aus dem ihre Familie 1943 gerade so entkommen konnte. Unter ihren Verwandten gab es trotz der Geschichte noch immer den einen oder anderen, der Deutsch sprechen konnte. Rahels Vater war einer von ihnen, weshalb auch sie selbst einigermaßen passabel Deutsch sprach.

„Die 1940er sind lange her, Mama“, hatte sie in der Diskussion um ihre Zukunft gesagt. „Und ich wünsche mir einfach ein Leben in einer Region, in der ich nicht nachts von Luftangriffssignalen geweckt werde.“

Damit hatte sie eine über Monate andauernde Diskussion beendet, auch wenn ihre Mutter selbstverständlich im Anschluss weiter versucht hatte, Rahels Entscheidung rückgängig zu machen. Doch ihre Mutter wusste auch, dass sie schon immer stur gewesen war und meist ihr eigenes Ding durchzog. Ihr Vater hatte es direkt verstanden. Auch er hatte seine Zeit beim Militär zwar in stolzer, aber trotzdem nicht besonders guter Erinnerung.

„Entschuldige, Nadja“, sagte sie nun und schaute von ihrem Mensaessen auf. „Ich war kurz in Tagträume versunken.“

„Ja, hab ich gesehen“, antwortete Nadja. Immer noch trug sie einen misstrauischen Blick. „Und es war nicht das erste Mal, dass dir das passiert, während ich mit dir spreche. Ich würde gern wissen, was in deinem Kopf vorgeht.“

„Da bist du nicht allein“, murmelte Rahel. „Vielleicht sollte ich dir einfach erzählen, was ich bisher niemandem außerhalb der Therapie erzählt habe.“

„Niemandem?“

Rahel schüttelte den Kopf.

„Selbst meine Eltern wissen nichts davon.“

Es war eine dieser Situationen, von denen sie in ihrer Grundausbildung beim israelischen Militär gehört hatte, von denen sie jedoch nie gedacht hätte, dass sie selbst einmal durch sie durchgehen würde. Es geschah einfach zu selten, als dass es ausgerechnet ihre Einheit treffen würde.

Doch sie stand hier, im Grenzgebiet zum Westjordanland, und war in eben jener Zwickmühle…

Vor wenigen Minuten hatte sie mit Ziva den Kontrollgang am Grenzzaun angetreten. Die Situation hatte sich in den letzten Tagen wieder normalisiert. Aber was hieß das schon?

Ist es normal, wenn du vor ständigen Angriffen Angst haben musst? Wenn du einen lauten Knall eher mit einem Schuss, einer Granate oder gar einer Bombe assoziierst, als mit einer Fehlzündung oder einem Silvesterböller?

Ziva war bereits ein paar Schritte weiter gegangen, als Rahel gerade einen Schluck aus ihre Wasserflasche nahm. Als sie diese wieder absetzte, sah sie aus den Augenwinkeln eine Person im Sperrgebiet. Sofort griff sie zum Funkgerät.

„Melde Person im Sperrgebiet“, sagte sie. „Wiederhole: Person im Sperrgebiet.“

Sie wartete. Ziva hatte sich zu ihr umgedreht. Nun wandte auch sie ihren Blick der Person zu. Ihre Hände wanderten zu ihrem Maschinengewehr. Dann stockte sie und zog stattdessen das Fernglas.

„Nur ein Kind“, sagte sie.

Rahel zog ebenfalls ihr Fernglas und schaute hindurch.

Ein ungefähr fünfjähriger Junge lief allein durch den Sand. Immer wieder drehte er sich um, als würde er nach seinen Eltern suchen. Dann hob er eine Hand und Rahel verkrampfte.

Der Junge hielt eine Schusswaffe in ihre Richtung.

„Ziva, er hat eine Waffe in der Hand“, sagte sie ruhig.

Ziva warf sich sofort auf den Boden und machte ihr M16 schussbereit.

„Ziva!“

Rahel starrte zu ihr hinüber. Noch immer stand sie dort, wo sie gerade eben noch Wasser getrunken hatte. Für eine Kampfsituation hielt sie das Szenario bei weitem nicht.

„Geh runter!“, rief ihr Ziva zu. „Wenn er eine Waffe hat…“

Rahel ließ sich auf ein Knie nieder. Ihre Waffe rührte sie nicht an.

„Er ist doch nur ein Junge“, sagte sie. „Was willst du denn tun? Der Rückstoß der Waffe verletzt doch eher ihn selbst, als dass der Schuss uns verletzen würde.“

„Du kennst die Ansagen aus dem Briefing. ‚Bewaffnete Personen im Sperrgebiet werden bei Annäherung an den Grenzzaun kampfunfähig gemacht.‘“

Konzentriert nahm Ziva den Jungen mit ihrer M16 ins Visier.

„Das kannst du doch nicht ernst meinen!“

„Ich mache die Anweisungen nicht, Rahel.“

Der Junge lief weiter. Unbeirrt auf den Grenzzaun zu.

„Vielleicht hat er nur eine Spielzeugpistole in der Hand?“, fragte Rahel.

Sie schaute durch ihr Fernglas. Mit jedem Schritt, den sich der Junge näherte, wurde die Waffe in seiner Hand deutlicher und besser erkennbar. Doch mit jedem Schritt kam er auch einem Schuss nahe, der womöglich tödlich enden könnte.

Ein Fuß vor den anderen.

„Halt einfach an, bitte.“

In Zivas Stimme lag ein Flehen. Rahel wusste, dass sie nicht schießen wollte. Doch die Befehle waren eindeutig.

Der Junge war jetzt fast am Zaun.

Ziva und Rahel hatten gehört, dass Kinder oft vorgeschickt wurden, um eben solche Situationen zu schaffen. Ein Staat, der auf Kinder schießen ließ, musste schlecht sein. Das war das Bild, das die Terroristen für die internationale Presse haben wollten. Die beiden Frauen wussten das. Doch sie wussten auch, dass die Terroristen nicht davor zurückschreckten, die Eltern zu entführen, den Kindern tatsächliche Waffen in die Hand drückten und sie damit beauftragten, auf israelische Soldaten zu schießen, wenn sie ihre Eltern wiedersehen wollten. Die Kinder waren in beiden Fällen Opfer.

Einen Fuß vor den anderen setzte der Junge.

Rahel schaute nicht mehr auf ihn. Sie schaute auf Ziva. Ihr Finger war am Abzug. Er zuckte leicht. Sie biss sich immer wieder auf die Unterlippe. Ihre pure Verzweiflung war quasi spürbar.

„Lauf doch einfach wieder zurück!“, murmelte sie, die M16 immer noch direkt auf den Jungen gerichtet. „Wo sind deine Eltern?“

„Wohin zielst du?“

„Beine“, sagte Ziva. „Aber mit einer M16 ist das pure Glückssache. Außerdem: Bei dem Wind und auf die Entfernung…“

„Zielperson erfasst“, kam die Stimme des Scharfschützen ihrer Einheit aus dem Funkgerät. „Erwarte Schießbefehl.“

Ziva nahm den Finger vom Abzug. Rahel wollte zum Funkgerät greifen, doch sie hatte keine Befehlsgewalt mit ihrem Rang. Nicht über den Scharfschützen.

„Verweigert“, ertönte die Stimme des Kommandanten. „Nur ein Kind.“

Erleichterung ergriff sie. Ziva sicherte ihr Maschinengewehr und schulterte es. Rahel warf durch das Fernglas einen  letzten Blick auf den Jungen. Die Waffe in seiner Hand war nicht echt. Das konnte sie deutlich sehen. Dann -

Ein Schuss ertönte.

Und der Junge fiel zu Boden.

„Hat er überlebt?“, fragte Nadja, die Augen vor Schock weit aufgerissen. Rahel wusste, dass sie das alles wahrnahm, als wäre es eine Geschichte aus einem Film. Doch es war kein Film. Es war tatsächlich passiert. Nur nicht Nadja, sondern ihr.

Nadja verstand es nicht. Sie würde es nie verstehen, bevor sie nicht selbst in einer solchen Situation steckte. Und Rahel wünschte ihr, dass ihr das erspart blieb.

Sie antwortete nicht.

Stattdessen griff sie in ihre Handtasche und holte die Spielzeugpistole des Jungen hervor.

„Ich trag sie immer bei mir“, sagte sie.

Eine Träne lief an ihrer Wange herab.

„Ich hätte ihn nicht melden sollen...“

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