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Des Dichters Seele

Des Dichters Seele

May 03, 2020

Seine tintengetränkten Gedanken fliessen in chaotischen Bewegungen über büttenweisses Papier, verlieren sich in ziervollen Schnörkeln und zwischen schiefen Zeilen. Sein Atem geht schnell und tief, ein leichtes Röcheln ist zu vernehmen, wenn sich sein krummer Buckel mühsam um wenige Einheiten streckt und er die Feder in das Wörterfässchen taucht. Seine Augen sind gross und dunkel, und nie verharrt sein Blick in der Gegenwart, sondern scheint immer auf etwas ausserhalb der Zeit gerichtet zu sein. Er vernimmt das Murmeln von dem was war, und von dem, was noch nicht ist. Er lauscht Gesprächen, die noch nicht gesprochen und Schwüren, die vor langer Zeit geschworen wurden. Seine grossen Ohren nehmen die hellen Klänge von aufeinanderprallenden Klingen und den dumpfen Ton von niedersinkenden Körpern war. Er hört das höhnische Gelächter eines Mannes, dessen Zeit noch nicht gekommen ist, und das lustvolle Stöhnen einer Frau, deren Körper bereits von den Würmern zersetzt in der Erde liegt. Sein stetig nach innen gerichteter Blick offenbart ihm das Gewühl an seidendünnen Fäden, die alles zusammenhalten. Seine niedergekrümmte Wirbelsäule erzählt von den vielen Stunden, die er schreibend in seiner kühlen Kammer verbracht hat. Sein Körper gehorcht ihm schon lange nicht mehr, sondern nur noch den Worten. Seine Finger sind so gekrümmt und versteift, dass die Feder zu einem Teil seiner Hand geworden ist, die er auch nicht unter grösster Anstrengung aus seinen fünf Fingern hätte zerren können. Feder und Finger wurden schon vor langer Zeit zu einer neuen Hand, der nur noch der Zweck des Aufschreibens inne liegt.

Er schläft bei Tag und schreibt bei Nacht. Das Licht der Welt sagt ihm nichts, zu laut erscheinen ihm die Geräusche des Tages, die schmerzhaft auf seine Ohrmuscheln treffen. Zu viele Eindrücke überlagern das, was er sucht, und was er nur in der Dunkelheit und Stille der Nacht findet. So sieht man ihn mit gesenktem Kopf über dem Schreibtisch ruhen, sobald die ersten Sonnenstrahlen den Himmel zu färben beginnen. Sein Atem geht so ruhig und flach, dass er den Anschein eines Toten hat. Unterstrichen wird das Bild von seiner fahlen Haut, den vereinzelten, schlohweissen Haarbüscheln und den grossen, grauen Altersflecken auf der nun schon kahlen Haut seines Schädels.

Er wartet bis die letzte Farbe den Horizont verlässt und nur noch Grau die Welt bemalt, dann schreckt er aus seinem Schlaf auf, reibt sich mit der federlosen Hand die Augen und macht sich ans Werk. Kratzend fährt seine Feder über einen neuen Bogen Papier, schreibt nieder, was niedergeschrieben werden muss. Er spürt die Bedeutung seiner Aufgabe, auch wenn sie sich ihm nie ganz erschliessen will. Er lauscht und horcht und schreibt die ganze Nacht über, vergisst die Zeit, die für ihn nur noch etwas ist, was um ihn herum geschieht und ihn nicht sonderlich betrifft. Er schreibt auf, was nicht vergessen werden darf. Er findet wunderschöne, seelenvolle Worte für das, was die Welt sah und doch noch nicht gesehen hat. Er kleidet Geschichten in neue Gewänder aus tintenblauen Worten. Er verwandelt Liebesschwüre in rührende Verse, belanglose Gespräche in klingende Dialoge, Gedankenfetzen in einen mitreissenden Monolog. Er schreibt eine Geschichte der Welt auf, die noch erhabener ist, als alles, was wirklich geschehen ist.

Seine Geschichten tragen die Namen anderer, die sich ihres Einfallsreichtums rühmen und unverdient die Bewunderung ihrer Leserschaft ernten. Schriftsteller, Poeten, Verseschmiede, Wortzimmerer, Tintenklekser, Schreibwütige und Brieffreunde; sie alle sind es nicht, die den Samen gepflanzt haben. Und doch sind sie unwissend Teil der atmenden, pulsierenden Dichterseele, die alles umspannt und alles durchdringt. So steht hinter allem, was jemals den Weg auf ein Stück Papier fand, die Inspiration, die niedergekrümmt am Schreibtisch sitzt und selber nichts von der Schönheit und Erhabenheit seiner Worte ausstrahlt. Nur ein unbedeutendes, kleines, gebücktes Männlein, das doch kraftvoll der Zeit trotzt und überdauert, weil es noch immer gebraucht wird. Und so lauscht und horcht und schreibt er noch immer und jeder, der die absolute Stille in sich findet, wird das Kratzen seiner Feder vernehmen, die neue Tintenstriche zu Worten formt.

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