Estella
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Island

May 14, 2020

Wie gerne würde ich im Morgengrauen mit gepackten Koffern vor deiner Tür stehen. Noch Müdigkeit in den Augen, aber ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. So wie damals, als wir nach Hause kamen, weisst du noch?

Mir zittrigen Fingern würde ich klingeln, wohlwissend, dass ich mein Schicksal in die kommenden Augenblicke gelegt habe. Alles verkauft, alle Bande gebrochen, alle Verträge aufgelöst – denn dieses Leben hat uns beide über zahllose Irrpfade in die Dunkelheit geführt. Und so fange ich neu an, verlasse das Bekannte mit Angst in der Magengrube. Und doch weiss ich, dass der einzige Weg der nach vorne ist.

Warum ich dich immer noch vermisse? Weil du mir so vertraut bist. Weil mein Herz sich vor langer Zeit für dich entschieden hat. Und weil ich nicht zulassen kann, dass du fällst. Weil dein Leben weder traurig noch verschwendet sein soll. Ich wage nicht mehr zu sagen, dass ich dich liebe. Denn was weiss ich schon von Liebe? Habe ich mich denn nicht auch verloren? Wurde ich denn nicht auch zu einem Schatten meiner selbst? Wenn das Liebe ist, dann wurden wir beide betrogen.

So stehe ich da, in der kühlen Morgenluft, die bereits an Island erinnert. Weisst du noch, wie frei wir waren? Wir fuhren durch die endlos schöne Landschaft, unser kleiner vierrädriger Kosmos, in dem es nur dich und mich gab. Unsere Hände ineinander verschlungen. Mit dir an meiner Seite hatte ich mein Zuhause bei mir.

Wenn ich gewusst hätte, dass das mit uns irgendwann zu Ende ist, dann hätte ich dir öfters gesagt, wie viel du mir bedeutest. Nicht, weil du mir so viel gibst. Sondern nur weil du bist. Weil es mich glücklich macht zu sehen, wie glücklich du bist. Der Moment auf dem Meeresboot war nicht so wunderschön und einzigartig, weil ich mir einen lang gehegten Kindheitstraum erfüllte, sondern weil du in diesem Moment so berührt und voller Leuchten warst.

Wenn ich gewusst hätte, dass du irgendwann nicht mehr in meinem Leben bist, dann hätte ich dich nicht fortgeschickt, als ich an einem Morgen noch etwas länger schlafen wollte. Ich hätte dich zu mir gezogen, meine Arme um dich geschlungen und dir gesagt, dass du das grösste Geschenk bist, das ich jemals bekommen habe.

Ich wünschte, ich hätte vieles anders gemacht. Ich habe so gut ich konnte gekämpft. Um uns, aber vor allem um dich. Ich wünschte mir so sehr, dass ich die Lebensfreude zurück in deine Augen schreiben kann und deine ungebändigte Kraft zurück in dein Herz. Ich wünschte mir so sehr, dass Sprache tatsächlich so mächtig ist, wie sie sagen, und ich damit das triste Grau vertreiben kann. Aber nichts was ich sage ist so mächtig wie die Gedanken in deinem Kopf. Und wenn du denkst, dass ich nicht die Richtige für dich war und bin, dann ist das die Wahrheit. Und wenn du nicht mehr an unseren gemeinsamen Traum glaubst, dann ist auch das wahr. Ich kann dir nur meine Realität entgegensetzen, doch Glauben schenken musst du mir nicht.

Ich weiss, dass du davon überzeugt bist, dass Liebe allein nicht reicht. Ich aber spüre, dass Liebe alles ist, was wir brauchen, um Mensch zu sein. Und so stehe ich hier vor deiner Türe, klingle und warte. Niemand wird uns die Zeit zurückgeben, die schon vergangen ist. Niemand wird für uns die Scherben aufsammeln. Doch um in eine gemeinsame Zukunft zu gehen, braucht es oft nur den Mut, die Neugier und das Vertrauen, eine Tür zu öffnen.

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