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Pflanzenherz

Pflanzenherz

Apr 30, 2020

In der Dunkelheit der Erde lag das kleine Sämchen und träumte; träumte von der Wärme der Sonne und vom Tanz des Windes. Es war voller Vorfreude auf die Form, in die es wachsen würde; auf die Abenteuer, die über der Erde auf es warteten. Durch einen wunderbaren Zauber würde die harte Schale, die all sein Werden umgab, aufreissen und es ihm erlauben, Wurzeln zu schlagen und sich erwartungsvoll dem Himmel entgegenzustrecken. Geduldig lag es da, wo niemand es sehen konnte, wo keiner um die Verwandlung wusste, die bald beginnen würde. Geduldig träumte es von seiner Erfüllung, spürte den Plan, den es in seinem runden Pflanzenherzen trug. Geduldig vertraute es auf die wunderschöne Blume, die ihm bereits innewohnte, beschützt und geborgen im Schoss der Erde.  

Über der Erde besuchten Amseln, Spatzen, Krähen und Rotkehlchen das Feld. Ihre spitzen Schnäbel zertrennten die Erde auf der Suche nach etwas Essbarem. Ihnen verschloss sich der Traum des kleinen Sämchens; sie waren hungrig und erlaubten es sich nicht zu träumen. Sie hatten ihre eigene dunkle Zeit in ihrer Eierschale längst vergessen. Sie hatten ihre eigenen Träume mit ihrem ersten Flug abgeschüttelt und sich ganz dem Beschaffen von Nahrung und dem Aufziehen ihrer Kinder verschrieben. Emsig bauten sie Nester, suchten nach einem willigen Partner, frassen, schliefen, flogen und sangen. Ihr traumloses Leben spielte sich im Rhythmus der Jahreszeiten ab, sie hatten nicht mehr den Wunsch, etwas anderes zu werden, als sie bereits waren.

Die Bauern erzürnten sich über die lästigen Flatterviecher, die ihnen Saatgut von den Feldern klauten, die allein ihnen gehörten. Auch sie verstanden nichts von dem Traum, den das kleine Sämchen glücklich in der Dunkelheit träumte. Sie kannten nur die harte Arbeit und die launischen Marktpreise. Sie gaben sich auch nicht dem Rhythmus der Natur hin wie die Vögel, sondern sorgten sich über ausbleibenden Regen, Überschwemmungen und Stürme. Ihr ganzes Kapital lag in der Erde und so interessierten sie sich nur für ihre Ernte und grosszügige Abnehmer. Sie hatten ihr Leben den Nutzpflanzen verschrieben und töteten alles, was diese gefährden könnte: Insekten, Vögel, Krankheiten und Unkraut. Es war nicht ihre Schuld, ihre Absichten waren doch immer rein gewesen. Vor langer Zeit hatten auch sie einen Traum gehabt; sie wollten das Land bestellen, ihre Familien ernähren und der Erde Gutes tun. Sie wollten den Schoss, aus dem alles wächst, ehren und sich gut um ihn kümmern. Doch auch sie hatten ihren Traum vergessen.

Das kleine Sämchen spürte den Regen, der die Erde befeuchtete und es dazu aufforderte, weich zu werden, sich zu entfalten und mit seinen Würzelchen Kraft aufzunehmen. In diesem Moment fühlte das Sämchen, dass alles ihm dabei half, das zu werden, was es in seinem tiefsten Inneren bereits war: eine bunte Blume, die mit ihrem süssen Nektar Bienen und Schmetterlinge einlud, die sich sanft im Wind wog und dessen Köpfchen sich bei Regen und Kälte schloss. Das Sämchen begriff, dass es sein Traum war, der es dazu brachte zu wachsen. Dass es nur so seine eigene Hülle durchbrechen konnte. Sein eigener Glaube an etwas, das tief in ihm verborgen lag und das niemand ausser ihm sehen konnte, gab ihm den Mut, zu werden, wozu es geboren worden war.

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