Zu spät

Jan 09, 2022

Tick. Tick. Tick.

Marvin lief die Zeit davon. Mit Hochdruck tippte er auf seinem Laptop, dessen Bildschirm seine einzige Lichtquelle war. Er achtete dabei nicht auf irgendwelche anderen Dinge im Raum, denn die waren jetzt nicht mehr wichtig. Sie waren nie wichtig gewesen, doch das hatte er zu spät verstanden. Alles was zählte, war das, was auf dem Bildschirm vor ihm vor sich ging. 

Die Bücher zu beiden Seiten seines Laptops lagen kreuz und quer auf dem Schreibtisch verteilt. Kein einziges davon hatte er komplett gelesen, denn ihm war die sowieso schon knappe Zeit weggelaufen. Nur nach brauchbaren Informationen hatte er gesucht, die ihm mit diesem Projekt weiterhelfen konnten. Sein ganzes Leben hing vom Erfolg dieses Unterfangens ab. Es war nicht nur irgendein Uni-Ding, das er hier abgeben musste.

Es ging um sein Leben.

Wenn er ihnen nicht die richtigen Informationen lieferte, wäre alles verloren. Er würde nie mehr aus diesem Loch herauskommen. Stattdessen würde man ihn wohl irgendwo hinter einem Bauernhof vergraben, wo ihn wohl über Wochen niemand finden würde - wenn ihn denn überhaupt jemand finden würde.

Tick. Tick. Tick.

Warum man gerade ihn für diese Aufgabe ausgesucht hatte, war ihm klar. Marvin hatte bereits in frühen Teenagerjahren begonnen, sich mit Hacking zu befassen. Er studierte Informatik und wollte nach seinem Studium möglichst in der legalen Hacker-Szene einsteigen. Als er das seinen Eltern erzählt hatte, waren sie vollkommen irritiert.

„Sind Hacker nicht immer Kriminelle?“, hatte seine Mutter gefragt. Mit einem Lächeln hatte er versucht, sie von diesem Irrglauben abzubringen, doch nach einigen Wochen Diskussion wollte sie immer noch an seinem Vorhaben zweifeln. Dass ihr Sohn in illegale Machenschaften verwickelt würde, war das Letzte was sie wollte. Logisch. 

Doch die Arbeit von Hackern ist eigentlich nicht illegal. Viele von ihnen werden tatsächlich von großen Firmen beauftragt, die Unternehmensseiten zu hacken, damit sie die Sicherheitslücken vor tatsächlich böswilligen Hackern schließen können.

Sicher gab es auch schwarze Schafe in der Branche, doch die gab es nach Marvins Meinung auch bei der Polizei oder in Banken. Von den guten Hackern wollte nie jemand etwas hören: Diejenigen, die undemokratische Webseiten lahmlegten, Geldflüsse an illegale Institutionen unterbanden und im Dark Web kriminelle Webseiten ausschalteten.

Tick. Tick. Tick.

Wieder fielen ihm die Augen zu, wie so oft in den letzten zwei Tagen. Doch wenn er nun aufgab, würde er nicht mehr aufwachen. Sie hatten ihm gesagt, dass er 48 Stunden Zeit hatte, ihnen den Zugang zu dieser Plattform herzustellen, doch die Systeme waren gut geschützt. Wenn er es nicht schaffte, würde das Nervengift in seiner Blutbahn nicht mehr gestoppt werden können. Sie hatten ihm versprochen, dass er das Gegengift verabreicht bekäme, doch nur dann, wenn er den Zugang zur Plattform bis Mitternacht herstellte.

Nervös schaute er über die Schulter. Ihm war, als würde sein Richter und Henker bereits in einer dunklen Ecke der Kammer auf ihn warten. Doch er konnte niemanden erkennen.

Die Uhr auf dem Desktop ließ ihn schwitzen. 23:43 Uhr. Noch etwas mehr als eine Viertelstunde blieb ihm, um sein Leben zu retten. 

Es kam nicht nur darauf an, dass er etwas erreichte, sondern auch darauf, welche Informationen auf der Plattform zu finden sein würden. Würde es denen reichen? Würde es sein Leben retten? Oder hatten sie bereits alle Informationen, die auf der Plattform zu finden waren?

Immer wieder schweiften Marvins Gedanken ab. Immer wieder schweiften sie zu seiner Familie, seinen Freunden und Bekannten zu Hause. Doch er durfte jetzt nicht in seinen Kopf verlieren. Er musste sich konzentrieren, weiter tippen. Wenn er es nicht tat, sich ablenken lassen würde…

Hinter sich hörte er ein Knarren. Jemand hatte den Raum betreten.

„Nein“, sagte er, ohne den Blick vom Bildschirm abzuwenden. „Es ist noch nicht Mitternacht. Ich habe noch eine Viertelstunde.“

Niemand antwortete ihm. Stattdessen hörte er nur wie jemand auf ihn zukam. Unbeirrt tippte er weiter, auch wenn es ihm die Person hinter ihm nun nicht leichter machte. Schon in der Schule hatte er es gehasst, wenn ihm bei Arbeiten der Lehrer über die Schulter geschaut hatte. In einer solchen Drucksituation war das das letzte, was er gebrauchen konnte.

Die Schritte stoppten. Sie stand jetzt genau hinter ihm, er konnte den Atem der Person förmlich in seinem Nacken spüren. Er wollte sich nicht umdrehen, denn er wusste, dass das Konsequenzen haben würde. Wenn er sah, wer hinter ihm stand, würde er auf keinen Fall überleben.

Tick. Tick. Tick.

„Ich frage mich“, knurrte ein älterer Mann, „ob du überhaupt überleben willst.“

Marvin vertippte sich und prompt erschien die nächste Fehlermeldung auf dem Bildschirm.

„Natürlich will ich das!“, rief er. Schweiß lief ihm die Stirn hinunter und in die Augen. Unwirsch wischte er ihn sich aus dem Gesicht, klickte die Fehlermeldung weg und versuchte einen neuen Ansatz.

„Tatsächlich?“ Belustigung trat in die alte, knurrende Stimme. „Warum hast du dann so viele Pausen gemacht?“

Marvin blieb stumm. Er wusste es und der Mann wusste es auch. Er wusste, warum er immer wieder eingeschlafen war. Das Nervengift, das sie ihm verabreicht hatten, war dafür verantwortlich. Es sorgte dafür, dass er immer wieder einschlief. Er hatte recherchiert und herausgefunden, was sie ihm verabreicht hatten. Seitdem hatte er die Drohung ernst genommen, dass er nicht überleben würde, wenn er ihre Zielvorgabe nicht erfüllte. Ohne Gegenmittel würde er sterben.

Vor zwei Tagen war er in diesem Raum aufgewacht. Es war vollkommen dunkel gewesen. Er lag auf einem Bett und hatte sich nicht bewegen können. Warum, hatte er nicht verstanden. Zwar war er davon ausgegangen, dass er eine dieser Situationen durchlebte, in denen der Arm nicht richtig durchblutet und eingeschlafen war. Doch da war es anders, denn in diesen Situationen fühlte es sich so an, als wäre etwas am eigenen Körper angenäht worden, was vorher nicht dagewesen ist. Man bewegt den Arm, spürt ihn aber nicht. Nach ein paar Minuten, wenn das Blut langsam wieder zu fließen beginnt, kommt auch das Gefühl wieder.

Er jedoch hatte alle Gliedmaßen vollumfänglich gespürt. Doch wann immer er seinen Arm zu bewegen versuchte, war er gescheitert. Hatte er eine Droge bekommen, die ihn am ganzen Körper gelähmt hatte? Seine Erinnerungen waren verschwommen gewesen, als hätte er am Vorabend einen oder zwei über den Durst getrunken. Er wusste nur, dass er in seiner Wohnung gewesen war, als er einen Stich im Arm wahrgenommen hatte. Kurz darauf, ein weiterer Stich. Dann war alles schwarz geworden und er war erst wieder in diesem Raum aufgewacht, in dem er sich auch jetzt noch befand.

Dann war jemand in den Raum gekommen. Er hatte nur einen Schatten gesehen, da, wo er glaubte, dass die Tür sein musste. Ein Gesicht hatte er nicht erkennen können, denn der Raum hinter der Gestalt war hell beleuchtet gewesen. Es war sein Glück, denn hätte er das Gesicht gesehen, hätte er keine Chance mehr auf ein Gegengift gehabt. Doch etwas war ihm verabreicht worden, denn als die Person die Kammer verlassen hatte, konnte Marvin sich nach und nach wieder bewegen.

Er hatte eine Notiz gefunden, dass er 48 Stunden Zeit hatte, um eine Plattform zu hacken, die Informationen bereit hielt, auf die es seine Geiselhalter abgesehen hatten. Er kannte die Plattform, wusste aber auch, dass sie gut geschützt war. In den ersten Stunden hatte versucht herauszufinden, wo er war und was ihm verabreicht wurde. Dann waren ihm unvermittelt die Augen schwer geworden.

Als er wieder zu sich kam, stand dieselbe Person neben ihm.

"Du konzentrierst dich besser auf die Aufgabe, wenn du hier lebend rauskommen willst."

Diese Person stand nun erneut in diesem Raum.

"Dass du noch nicht fertig bist...", sagte der Mann mit Belustigung in der Stimme. "Ich dachte, du würdest das alles etwas ernster nehmen."

„Warum ausgerechnet ich?“, fragte Marvin. „Warum kein anderer Hacker?“

Der Mann antwortete nicht gleich.

„Ich schätze, du warst ein einfach zu beschaffender Proband.“

„Proband? Bin ich Teil eines Experimentes?“

Wieder antwortete Marvins Gegenüber nicht gleich. Dann:

„Man könnte es wohl so ausdrücken, ja.“

„Dann steht mein Leben etwa nicht auf dem Spiel?“ Erleichterung überkam Marvin.

„Oh“, antwortete der Mann, „oh, doch. Dein Leben könnte durchaus in wenigen Minuten vorbei sein. Deshalb würde ich mich an deiner Stelle wieder auf die Aufgabe konzentrieren, Marvin.“

Tick. Tick. Tick.

Marvin schaute wieder auf die Bildschirmuhr und bereute es sofort.

23:53 Uhr. Fuck. Er hatte den Faden verloren.

Schnell tippte er weiter. Immer wieder rief er sich die Informationen aus den Büchern zu seiner rechten und linken in Erinnerung. Du schaffst das, dachte er. Du musst es schaffen.

Seine Finger schossen über die Tastatur, doch irgendetwas stimmte nicht. Er wurde langsamer, sein Blick verschwamm. Eine erneute Welle Müdigkeit überkam ihn.

Es würde die letzte sein.

Der Mann hinter ihm atmete enttäuscht auf. 

„Schade“, sagte er. „Du warst nicht schnell genug.“

„Aber“, sagte Marvin. „Ich hab doch noch fünf Minuten.“

„Du hättest noch fünf Minuten gehabt, hättest du den Zugang beschaffen können. Doch so…“

Marvin starrte auf den Bildschirm. Nur noch diese eine Zeile. Er überlegte fieberhaft, ob es funktionieren würde und drückte die Enter-Taste.

Eine weitere Fehlermeldung. Kein Zugang. Das Ende für ihn.

„Ich bin mir sicher, dass du der Lösung sehr nah warst“, sagte der Mann. „Du hättest ein wertvoller Teil unserer Bewegung sein können, aber leider hast du wertvolle Stunden vertan, um nach dem Gift zu suchen, das wir dir verabreicht haben.“

Marvins Arme wurden schwer. Sein Körper wurde immer schlaffer. Die Sicht verschwamm ihm immer mehr, doch er hielt sich mit aller Kraft am Leben, kramte in seinen wirren Gedanken nach einem weiteren Lösungsansatz.

„Du hättest früher beginnen müssen, Marvin“, sagte der Mann. Marvin hörte ihn wie durch ein schlecht eingestelltes Radio.

Mit aller Kraft hob er den Arm für einen weiteren Versuch. Seine Hände waren zwar langsam, doch irgendwo in seinen Gedanken war ihm ein Licht aufgegangen.

Alles verlangsamte sich. Ein dunkler Schatten vor seinen Augen nahm ihm immer wieder die Sicht.

Plötzlich erhob sich der Mann hinter ihm, als er seinen nächsten Versuch unternahm.

„Das könnte…“, sagte er.

Bin ich auf der richtigen Spur?

Mit jeder verrinnenden Sekunde wurden Marvins Hände schwerer. Es war ihm kaum mehr möglich von der einen Taste zur nächsten zu kommen, doch er würde nur noch ein paar von ihnen drücken müssen.

„Bleib dran, Marvin“, sagte der Mann, nun in einem ganz anderen Tonfall. „Das könnte dir das Leben retten.“

Er hatte den Befehl eingetippt. Mit aller Kraft zog er seinen rechten Arm zur Enter-Taste.

„Sehr gut“, sagte der Mann. „Wir sind drin.“

Doch Marvin konnte sich nicht mehr bewegen.

„Bitte“, wollte er sagen. „Das Gegenmittel.“

Doch nichts als ein Brummen kam aus seinem Mund. Der Mann achtete nicht auf ihn. Gebannt schaute er auf den Bildschirm.

„Das ist es also“, sagte er. „Das ist es, was sie vorhaben.“

Marvin spürte, wie nun sein gesamter Körper nachgab. Er war wieder am Anfang, der Körper gelähmt. Der Mann schob ihn zur Seite, damit er auf das Bett fiel und nicht mit dem Kopf auf die Tastatur schlug und ihm den Zugang wieder zunichte machte.

Marvins Augen waren auf den Mann gerichtet. Er sah, wie er nach etwas in seiner Jackentasche griff. Doch der Mann zog lediglich ein Handy hervor und begann, den Bildschirm zu fotografieren.

„Das ist unglaublich nützlich“, sagte er, mehr zu sich selbst als zu Marvin. „Du hast uns sehr weitergeholfen.“

Dann warf er Marvin eine Spritze zu, die er in der anderen Hand gehalten hatte.

„Ich bin leider kein Arzt, also kann ich dir das nicht spritzen. Ich kann jemanden holen, doch das dauert noch einen kleinen Moment... den du aber leider nicht mehr hast.“ Er lachte. „Du wirst es dir wohl selbst spritzen müssen.“

Erneut schob sich ein Schatten vor Marvins Augen. Seine Sicht verschwamm. Mit aller Kraft versuchte er seinen Arm in Richtung der Spritze zu bewegen.

Tick. Tick. Tick.

Der Mann stand auf und betrachtete ihn. Ohne Mitleid in den Augen, schob er die Spritze an Marvins Hand. Marvin versuchte, sie zu greifen, doch kein Finger rührte sich. Der Mann atmete erneut enttäuscht auf.

„Schade. Ich hab es versucht. Mach’s gut, Marvin.“

In diesem Moment schlug die Uhr in der unteren rechten Ecke des Bildschirms auf 0 Uhr um.

Mitternacht.

Marvins Augenlider wurden zu schwer…

Zu spät.

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