Ein Blick hinter die Schleier

Ein Blick hinter die Schleier

Apr 07, 2022

Es ist ein winterlich anmutender Morgen Anfang April. Um diese Uhrzeit ist kaum ein Mensch auf der Straße, und wenn, dann eilen die wenigen Passanten mit eingezogenen Köpfen rasch ihren jeweiligen Zielen entgegen.

Der Ort, der mich schon von weitem mit seinem wunderschönen Schloss und dem angrenzenden Park begrüßt, scheint noch ein wenig vor sich hinzuträumen und zu warten, bis die Sonne durch die Wolken bricht und einen zarten Kuss auf die kühlen Mauern haucht. 

Der Grund, wieso es mich zu so ungewohnter Stunde hierher führt, befindet sich in einer Ecke des Schlossparks. Auf den ersten Blick sieht man nur ein wunderschön, mit Schmiedeeisen eingefasstes rundes Bassin, an dessen Seite sich eine imposante Skulptur erhebt. Es ist eine Frauengestalt, sitzend, mütterlich den Arm um ein spärlich bekleidetes junges Mädchen legend. Diese Frau stellt Mutter Baar dar, die dem jungen Mädchen den Weg Richtung Osten weist.

Und das Mädchen? Dieses zarte Geschöpf steht in diesem, von Adolf Heer 1846 geschaffenem Werk für die Donauquelle, die genau hier das Licht der Welt erblickt. Viele unterirdische Bachläufe, die den Schwarzwald durchziehen, ergießen sich in dieses wunderschön gestaltete Sammelbecken und vereinen sich hier zum Ursprung eines der größten Flüsse Europas. 

Andächtig, fast ehrfürchtig, gehe ich die letzten Meter, um mich dann über die Brüstung der Einfriedung zu beugen. Mein Blick fällt auf klares, blau schimmerndes Wasser, das aus einem smaragden schimmernden Untergrund aufsteigt. Ab und zu wird es von silbernen Luftblasen, die sich ihren Weg trudelnd, perlend, sanft aufsteigend nach oben suchen, durchbrochen. 

Über dem gesamten Becken liegt ein Hauch von Zauber. So, als würde hier, an diesem einsamen Platz, etwas Großes geboren werden, das in seiner jungfräulichen Unberührtheit dazu bestimmt ist, die Geschicke von Millionen Menschen, Tieren und Pflanzen zu beeinflussen.

Wenn man sich staunend, mit offenem Herzen, solch einzigartigen Kraftplätzen nähert, dann kann es sein, dass man für einen Moment hinter die Dinge schauen darf. Als würde ein Schleier weggezogen werden und ein kurzer Blick auf die Magie dessen gestattet werden, was die Welt im Innersten zusammenhält. 

Genauso ergeht es mir, als ich mich gedanklich in das magische Blau-Grün des Wassers fallen lasse. Der Verstand darf schweigen, wird träge weggeschwemmt von der Klarheit dieses Ortes, währenddessen sich der Geist und das Herz öffnen, um ganz in die Energie der Quelle einzutauchen. 

Dieser Platz schwingt, ist belebt, atmet ein und aus, ganz so, wie wenn dieses Wasser von einer unglaublich kraftvollen Präsenz durchdrungen wäre. 

Das Wesen dieses Wassers zeigt sich mir als etwas Erhabenes, Machtvolles und doch ungemein Liebevolles, dessen Energie eindeutig weibliche Schwingungen in sich trägt. „Wasser ist Leben“, scheint es mir zuzuflüstern, während es mich in mit allen Tönen von Blau umhüllt. Ich tauche ein in dieses Wesen, gehe darin auf, werde der Tropfen, der in den Ozean fließt, verliere an Kontur und Grenzen, bis ich eins bin mit allem, was ist.

Ich wünschte, diese Erfahrung von Genährt-Sein, von Getragen-Sein und der unendlichen Tiefe des Blau hätte ewig gewährt… und doch sind es nur ein paar Augen-Blicke, in denen ich hinter die Schleier schauen durfte und mir die Mannigfaltigkeit des Lebens gezeigt wurde.

Gleich darauf zog sich die Präsenz des Wesens „Donau“ zurück in sein unergründliches Blau und gab mir - eine sehnsüchtige Wehmut nährend - noch ein paar silberne Luftblasen als Geschenk mit auf den Weg.

Und da stehe ich nun, mit seltsam leerem Herzen…als wäre ich aus einem schönen Traum erwacht, den weiterzuträumen es mir nicht mehr möglich ist.

Ich bedanke mich beim Wesen der Quelle und dem Ort für diese Erfahrungen, bevor ich - schweren Herzens - den Ursprung der Donau verlasse. 

Enjoy this post?

Buy Susanne Zölss - Die Seelenbaumlerin a coffee

More from Susanne Zölss - Die Seelenbaumlerin