Kalte Erde

Jan 19, 2021

Gedankenverloren spaziere ich durch den Wald. Eisig kalt ist die Luft, die Bäume stehen kahl am Wegesrand, eine fahle Sonne versucht, hinter grauen Wolken hervorzubrechen. 

Viel geht mir durch den Kopf, vieles habe ich schon hundert Mal durchdacht, zerpflückt, von allen Seiten beleuchtet und abgewogen. Nichts Neues ergibt sich aus diesen Überlegungen, kein Aha-Erlebnis versüßt mir den Tag. Es ist alles gedacht, es ist alles gesagt, nichts geht mehr in dieser Schachmatt-Situation, in der wir uns gerade befinden.

Mein Blick ist auf den Boden geheftet, möchte mich vor vorwitzigen Wurzeln, hervorstehenden Steinen oder unebenem Gelände warnen. Überall sehe ich die Rillen in der Erde, die sportliche Mitmenschen mit ihren Rädern in den vormals weichen, vom Regen aufgeweichten Boden, geackert haben. Nun sind diese Spuren erkaltete, in den Waldboden gezeichnete Mahnmale menschlicher Gier nach Ablenkung vom alles verzehrenden Wahnsinn dieser Zeit. 

Manche Stellen am Boden sind eisig und abschüssig, und so gehe ich wie auf rohen Eiern, besonders vorsichtig, um nur ja nicht zu fallen. Denn in Zeiten wie diesen möchte man ja dem ohnehin überlasteten Krankenhauspersonal nicht auch noch auf die Nerven gehen.

Zugegeben, es gibt Tage, da kommt angesichts des Weltgeschehens ein gewisser Sarkasmus in mir hoch, der aber auch schnell in Humor, Fatalismus oder Frustration umschwenken kann. Zur Zeit schöpfe ich aus dem Vollen und bespiele die gesamte Tonleiter eines facettenreichen Gemütszustandes.

Doch zurück zu meinem Spaziergang. Es tut mir gut, den Blick auf Kleinigkeiten zu legen, auf Unscheinbares, auf versteckte Schönheiten. Auch, und gerade weil ich diesen Weg jeden Tag zurücklege. Man wird betriebsblind, wenn man immer wieder das Gleiche sieht, die gleichen Wege geht, den gleichen Menschen begegnet. Man vergisst, wie einzigartig, wie besonders, wie wunderschön jeder Baum, jeder Strauch und jedes Tier ist, wenn man täglich davon umgeben ist.

Und so bleibe ich stehen und löse meinen, auf dem Waldboden verhafteten Blick, und hebe den Kopf. Ich öffne mich ganz bewusst der Weite rund um mich, dem Wald, der mich umfängt, der Stille, die mich umgibt. Ich lege den Kopf in den Nacken und begrüße den Himmel über mir, der mir in seinen unzähligen Farbnuancen von Grau und Weiss neue Möglichkeiten eröffnet. Ich fange einen einzelnen Sonnenstrahl mit den Augen ein und lasse ihn in mir fließen - hin zu meinen Mundwinkeln, die sich heben - hin zu meinem Herzen, das sich öffnet - hin zu meiner Kehle, der ein Lachen entlockt wird.


Letztendlich ist es in jeder Minute des Tages meine Entscheidung, worauf ich meine Aufmerksamkeit richte.

Es ist meine Entscheidung, in all dem, das mich umgibt, das Schöne, Wahre und Gerechte zu sehen.

Es ist meine Entscheidung, welche Gefühle und Gedanken ich in mir nähre und zum Wachsen bringe.

Keiner wird mir diese bewusste Entscheidung abnehmen können. 

Keiner ist schuld an irgendetwas. 

Keinem kann ich die Verantwortung für meine Wahrnehmungen übergeben.

Nur ich alleine entscheide, worauf ich meinen Fokus lege und ob ich auf den eisigen Waldboden oder in einen offenen Himmel blicke. 

Es ist Fluch und Segen zugleich, Herrin über sein Bewusstsein zu sein. Und es ist der einzige Weg, der in die Freiheit, in die Selbstermächtigung führt. 

Und so gehe ich weiter. Im Außen ist alles beim Alten geblieben. In meinem Inneren jedoch ist die Sonne aufgegangen.

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