Alles "neu" oder wie?

Alles "neu" oder wie?

Jun 17, 2022

Viele Themen der Sportwissenschaft und der Sportpraxis erleben in Zyklen eine Rennaissance. Weder das "Functional Training" oder die "Kettlebell" sind keine Erfindung der Neuzeit, sondern waren bereits Anfang und Mitte des letzten Jahrhunderts bekannt und fanden eine breite Anwendung in der Sportpraxis. Auch das Intervalltraining (HIIT) ist ein solcher "Dauerbrenner". Karl Adam, einer der deutschen Jahrhunderttrainer, schrieb in seinen Notizen Anfang der 1970er, dass auf einer "Tagung der Leichtathletiktrainer" der Eindruck erweckt wurde, "dass das Intervalltraining überholt sei".

Ebenso, wie es viele Neubewertungen zu Trainingsmethoden gibt, halten sich manche Annahmen über Jahre in der Sportpraxis. Ein Beispiel hierfür ist, dass Talente möglichst früh ein einer Sportart einsteigen und dort erfolgreich bis in die Elite sein sollten. Auch wenn sich das Einstiegsalter von Sportart zu Sportart unterscheidet, dieses synthetische a priori ist weit verbreitet.

Während meiner Magisterarbeit zur Funktionalität von Rahmentrainingsplänen im Radsport und in der Zeit danach, durfte ich als Mitglied der Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Eike Emrich und Dr. Werner Pitsch zum Thema "Sociology of talent development for elite sports" mitarbeiten. Es entstanden verschiedene Publikationen und dazu die Habilitationsschrift von Prof. Dr. Arne Güllich.

Zentrale Erkenntnisse der Arbeiten war, dass:

  • ein früher Einstieg in einer Sportart kaum Einfluss auf spätere Erfolge in der Elite hat

  • der späte Einstieg in eine Sportart Erfolg nicht verhindert

  • der Kaderstatus keine lineare Linie - C - B - A bildet, sondern vielmehr Sportartwechsel und Seiteneinsteiger keine Seltenheit sind

Prof. Dr. Eike Emrich vertrat dabei immer die Auffassung, dass empirisches Arbeiten als Erklärungsmodell lediglich den aktuellen Zustand und nach Popper keineswegs Schlussfolgerungen für die Wirksamkeit alternativer Modelle liefert.

Die Publikationen - u.a. in der Zeitschrift Leistungssport - führten zu intensiven Diskussionen und Streitforen (schriftlicher Art). Die Protagonisten der Arbeiten blieben der Sportpraxis noch einige Zeit erhalten - Prof. Dr. Eike Emrich u.a. als Vizepräsident Leistungssport beim Deutschen Leichtathletikverband. Doch nachdem die Kritik unverhältnismäßig anwuchs, widmetet sich die Arbeitsgruppe neuen Forschungsgebieten. Ich wechselte zu Prof. Dr. Harald Lange an die Universität Würzburg.

Heute - 17 Jahre später erscheinen neue Studien, deren Befunde der damaligen Arbeiten stützen. Insbesondere die vielseitige Ausbildung der Sportler:innen und der Sportartwechsel sind zum Teil erfolgsdiskiminierende Variablen. Für die Sportpraxis bedeutet dies, dass die Ausbildung der jüngeren Athleten möglichst breit erfolgen sollte. Die Arbeit von Landestrainer Frank Heimerdinger (Triathlon) am Bundesstützpunkt Nachwuchs (bis 2017) bildet genau ein solches Modell ab und der Erfolg gibt ihm recht. Turnen, raufen, springen und werfen als Grundlage für eine breite Ausbildung sind wichtige Elemente, die im Nachwuchsleistungssport empfehlenswert sind.

Quelle: Facebook, 17,06.2022, 12:04

Mit den Erfahrungen der damaligen Arbeit bleibt die Schlussfolgerung, dass eine empirisch saubere Arbeit nach den Grundlagen der Statistik ist eine hilfreiche Ergänzung hinsichtlich sportpraktischer Erfahrungen.

Bleibt skeptisch und hinterfragt Euch und Eure Arbeit ständig. Gute Trainer:innen sind offen für Neuerungen, ohne altes direkt abzuwerten.

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