Fahrradbiometrie: Schadensbilder und mög ...

Fahrradbiometrie: Schadensbilder und mögliche Lösungen

Jun 26, 2021

Auf einen Blick:

  • Beschwerden die durch eine falsche Position auf dem Rad ausgelöst werden

  • Warum Sie auf die Sitzposition achten sollten

  • Beispiele für Messtechnik im Bikefitting

 

Wann ich zum ersten Mal auf das Thema "Bike-Fitting" gekommen bin, vermag ich kaum noch zu sagen. Es war in jedem Fall zu meiner aktiven Zeit als Radsportler. Schon mit 17/18 verschlang ich Buch um Buch aus der Trainingsliteratur - in denen gab es zur Sitzposition jedoch kaum Informationen. Dazu las ich gerne Bücher über große Sportler.

In einem Buch über Bernard Hinault war zu lesen, mit welcher Hingabe er sich dem Suchen nach der richtigen Position verschrieb. Ich fand das faszinierend. In einem Buch gab es auch eine Formel, bei der die Innenbeinlänge x 0,79 (an die genaue Zahl erinnere ich mich nicht mehr) dabei helfen sollte die richtige Sitzhöhe ergeben. Mit solchen Formeln konnte ich nie viel anfangen. Später dann "jobbte" ich für Cyclefit - einer holländischen Firma, die ein Angebot zum Bike-Sizing für Fahrradhändler vertrieb. Auf der Eurobike in Friedrichshafen durfte ich 1998 und 1999 das System auf dem Stand des Importeurs an den Händlertagen vorstellen und nutzen. Einfach gesagt bestand das System aus einer Messlehre mit einem Winkel, einer Luftpumpe, die einen Kolben mit definierten Druck in den Schambeinbereich hob. Es wurden gemessen: 

  1. Oberschenellänge

  2. Rumpflänge

  3. Armlänge

  4. Innenbeinlänge und die 

  5. Handlänge


Aus den Parametern errechnete das Programm eine Vorgabe für die Sitzhöhe (Rahmenhöhe) etc. Gleichzeitig bot Bioracer den Händlern ein ähnliches System an. 

Die Bedeutung des Zusammenspiels zwischen Mensch und Technik wird in kaum einer anderen Fortbewegungsart so deutlich, wie beim Radfahren. Einerseits kann der Mensch mit dem Fahrrad unglaubliche Leistungen vollbringen. Er radelt auf die höchsten Berge der Alpen und der Pyrenäen, bestreitet wochenlange Wettkämpfe wie die Tour de France oder fährt 180 km vom Schwimmen zur Laufstrecke beim Triathlon. Allerdings kennen die meisten Radfahrer unter Ihnen sicher auch die Schattenseiten des Radelns. Brennende Füße, schmerzender Rücken und Knie sind da noch das Harmloseste. Das Fahrrad mit seinen starren Bauteilen kann angepasst werden, während der Mensch mit den beweglichen Elementen ein auf einem gut angepassten Rad sitzen sollte, um Fehlbelastungen zu vermeiden.

 

Auch wenn der menschliche Körper unglaubliche Leistungen verbringen kann, ist er doch auch recht anfällig für Schäden oder Verletzungen. Kontinuierliche Fehlbelastungen machen sich häufig nicht direkt bemerkbar. Gleichwohl können Sie aufgrund falscher Belastungen auf dem Fahrrad, aber auch beim Laufen, langfristig gesundheitliche Probleme bekommen. Beim Radfahrer sind dabei vor allem die Knie oder der Rücken betroffen. Aber auch Kalkablagerungen in den Hüftarterien sind bekannte Folgen falscher Sitzpositionen und können aufwendige Operationen notwendig machen. Dazu kommt, dass schon kleinste orthopädische Fehlstellungen auf dem Rad einen Leistungsverlust verursachen können. Das optimale Umsetzen der Körperenergie auf das Fahrrad gelingt nur, wenn alle dynamischen stoffwechselaktiven Funktionsabläufe perfekt aufeinander abgestimmt sind. Ursachen für Leistungseinbußen können einmal für Fehlbelasten der Beinachsen, über Drehbewegungen am Fuß oder aber über das Beeinträchtigen der Atmung oder des Blutflusses verursacht werden. Wenn Sie beispielsweise aufgrund einer zu flachen Sitzposition die Rippenbeweglichkeit einschränken, kann das schwerwiegende Folgen haben. Durch blockierte Rippengelenke kann die Atemexkursion behindert werden, so dass nur ein kleiner Teil des verfügbaren Lungenvolumens genutzt werden kann. Gerade bei einer möglichst aerodynamischen Fahrradhaltung sind Rippenblockierungen bei vielen Sportlern geradezu an der Tagesordnung. Auch die Halswirbelkörper können durch zu extreme Positionen blockieren und sind dann Ursache für Nackenbeschwerden. Beinlängendifferenzen und Fehlstellungen im Hüftbereich sind weitere Ursachen für Schmerzen und Probleme bei der Radausfahrt. Obwohl Radfahren eine relativ schonende Sportart für den Bewegungsapparat darstellt, können ungünstige mechanische Voraussetzungen oder eine falsche Sitzposition zu Verletzungen führen:

  • Brennende Fußsohlen vor allem im Vorfußbereich

  • Schmerzen an der Schienbeinkante

  • Beschwerden im Bereich der Knie

  • Schmerzen im unteren Rücken

  • Schmerzen im Nackenbereich

  • Schmerzen an den Handballen

  • Beschwerden im Schulterbereich bis zum Trizeps

  • Wadenkrämpfe

  • Krämpfe im Oberschenkel oder in der Gesäßmuskulatur

  • Taubheitsgefühle oder Schmerzen im Schambereich

 

Fehlbelastungen sind oft eine der Ursachen für die beschriebenen Probleme. Dazu kommt, dass der Körper durch Ausweichbewegungen und Verkrampfungen mehr Energie im Tretzyklus verbraucht. So wirkt dann die Kraft, die Sie erzeugen nicht mehr direkt am Pedal. Ihre optimale Sitzposition und eine optimal angepasste Radergonomie ist also die Grundvoraussetzung für Leistungsfähigkeit und Effizienz auf dem Rad. Sitzen Sie nicht angepasst auf Ihrem Rad leidet auch der Komfort und das kann einem die Freude an der Ausfahrt kräftig vermiesen.

Die häufigsten Probleme sind:

Patella-Sehnenentzündung

Die Entzündung im Bereich der Kniescheibe und ihrer Umgebung wird meistens durch Überlastungen ausgelöst. Zu viel Belastung mit zu hohen Gängen und dabei auftretende Scherkräfte können eine Ursache sein. Aber auch wenn Sie zu schnell steigern oder zu viele Intensitäten fahren, die Ihr Körper (noch) nicht verträgt kann eine Ursache sein. Es stellen sich Schmerzen am Knie oder hinter der Kniescheibe ein und können unter Last noch zunehmen. Erholungspausen und eine sorgfältige Anpassung der Sitzposition sind die empfohlenen Maßnahmen.

Knorpelerweichung/Chondromalazie:

Entzündung oder Degeneration der Knorpelmasse auf der Kniescheiben-Rückseite, die einem Schmerz hinter der Kniescheibe auslöst. Die Schmerzen werden schlimmer, wenn Sie beispielsweise im Sitzen eine Steigung erklimmen. Gegenmaßnahmen sind, Aktionen zu vermeiden, die die Belastung der Kniescheibe erhöhen. Dazu gehört Pedalieren mit hohen Trittfrequenzen bei niedrigen Übersetzungen und das Umgehen von Steigungen (vor allem im Sitzen). Erholungspausen und eine Optimierung der Sitzposition können helfen.

Abduktoren-Reizung/“Läuferknie“:

Entsteht durch Reibung der Abduktoren, die von der Hüfte bis ins untere Knie verlaufen. Der Schmerz tritt vor allem an der äußeren Femur – Condyle auf, wenn das Knie um mehr als 30° angewinkelt wird. Man spürt einen scharfen Schmerz mittig an der Knieaußenseite. Der Schmerz beginnt zunächst leicht, um dann progressiv zuzunehmen – stellen Sie sich einen Schraubendreher vor, der sich in ihr Knie bohrt. Häufigste Ursachen sind: zu hohe Sattelposition, zu geringer Fußabstand, O-Beine oder Senkfüße.

Plica-Syndrom:

Die Plica ist eine Schleimhautfalte, die sich entzünden kann. Der Schmerz entsteht, wenn dieses Gewebe zwischen Kniescheibe und Oberschenkelknochen eingeklemmt wird oder seitlich am Oberschenkel reibt. Zu Beginn einer solchen Entzündung merkt man einen dumpfen Schmerz, der dann auf der Knie-Innenseite in der Gelenkspalte neben der Kniescheibe scharf zunimmt. Das Plica-Syndrom ist oft die Folge eines zu tief montierten Sattels; X-Beine und Plattfüße erhöhen die Belastung der Bänder inne im Knie und ziehen die Schleimhautfalte straff.

 

Schleimbeutel- oder Sehnenentzündung am Pes anserinus:

Pes anserinus steht lateinisch für „Gänsefuß“ – den Sehnenansatz der 3 seitlichen Kniebeuger-Muskeln am Schienbein. Ein scharfer Schmerz kann mit Schwellungen und Überempfindlichkeit und zusätzliche Schmerzen beim Dehnen dieser Zone einhergehen. Es ist schwierig, zwischen einer Schleimbeutelentzündung und einer Sehnenentzündung zu unterscheiden. Ursache ist meist ein zu hoher Sattel oder Rotationsbewegungen im Knie. Weitere Ursachen können Pedale mit zu viel seitlichem Spiel („float“) und ein zu breiter Fuß-Abstand sein.

 

Patella-Spitzen-Syndrom:

Noch eine Form der Sehnenentzündung im Kniebereich. Sie wird meist durch zu hohe Belastungsintensität für eine Sehne ausgelöst, die zu Beginn der Saison noch nicht daran gewöhnt ist. Meistens ist die aerobe Fitness des Sportlers schon auf hohem Niveau, die Rad-spezifischen Stärken aber noch zu wenig trainiert. Der Schmerz tritt gewöhnlich an der Oberkante der Kniescheibe auf und zwar ziemlich stechend.

 

Generelle Tipps und Faustregeln für die Kniegelenke:

Kniegelenke haben es auf dem Bike am liebsten warm. Wenn also die Außentemperatur unter 18° C beträgt, sollte man seine empfindlichen Sehnen mit entsprechender Kleidung schützen. Zum Aufwärmen und Verstärken der Durchblutung fährt man stets 15 Minuten in leichten Gängen, bevor der Tretwiderstand erhöht wird. Starke Pedalkräfte erhöhen den Druck auf die Kniescheiben-Rückseite. Daher sollte die Trittfrequenz bergauf stets über 70/min betragen, um die Kniebelastung zu reduzieren. Compact- und erst recht 3fach-Kurbeln bieten die nötige Übersetzungsspanne und zudem Optionen in Sachen Fußabstand.

 

Schmerzen im unteren Rücken:

Gehören zu den häufigsten Beschwerden von Radfahrern. Mögliche Ursachen gibt es viele: neben schwacher Rumpfmuskulatur, verkürzten Hüftbeugern, alten Verletzungen können auch altersbedingte Folgen von Nervenschäden Auslöser für diese Beschwerden sein. Aber auch eine falsche Sitzposition, meist in Verbindung mit einem Beckenschiefstand, kann diese Probleme verursachen. Die genannten körperlichen „Vor-Schäden“ können deren Auswirkungen noch verstärken. Fast immer zeigt sich, dass der Fahrer eine zu gestreckte Sitzhaltung oder eine zu tiefe Lenkerposition eingestellt hat. Um den unteren Rücken zu entspannen, sollten zunächst Hände und Ellenbogen des Fahrers in eine neutrale Haltung gebracht werde. Ein stechender Schmerz in den Muskeln entlang der Wirbelsäule und dumpfe Schmerzen oberhalb des Beckens können auch durch ein verschobenes Becken oder eine Bein-Längen-Differenzen ausgelöst werden.

 

Schmerzen im Schulterbereich

Die Schmerzen treten gewöhnlich genau zwischen den Schulterblättern auf. Eine Ursache ist, dass der Lenker zu breit ist. Ihr Lenker sollte schulterbreit sein. Eine weitere Ursache kann sein, dass ein Beckenschiefstand zu Verspannungen und zu einseitiger Belastung führt.

 

Hände, Arme, Schultern:

Sicher kennen Sie das Phänomen, dass vielen Radfahrern die Finger einschlafen oder sich  taub oder kribbelnd anfühlen. Man bezeichnet dies als „Radler-Lähmung“ und im schlimmsten Fall kann auch ein Karpaltunnel-Syndrom entstehen. Die Ursache ist meistens eine falsche Sitzposition. Bringen Sie zuerst die Lenkergriffe in eine neutrale Position, wenn dies noch nicht der Fall ist. Hilft das nicht, kann ein Fachmann die Sitzposition auf die orthopädischen Gegebenheiten optimieren und Fehlstellungen beheben.

 

Achillessehenen – Entzündung:

Die Schmerzen rühren von einer entzündeten und geschwollenen Achillessehne her. Wie die meisten Sehnenentzündungen, ist dies die Folge von Überlastungen. Auslöser kann eine falsche Tritt-Technik sein, in der Ihr Fuß zu sehr in die Fußspitze und in die Ferse kippt und so die Achillessehne während einer Pedalumdrehung zusammenzieht und überstreckt. Auch ein falsch eingestelltes Rad, mit einer ungünstigen Kraftübertragung oder falsch eingestellte Cleats können dazu führen.

 

Was kann ich tun um Schmerzen zu vermeiden?

Einige der Probleme lassen sich recht gut über eine Optimierung der Einstellungen am Fahrrad korrigieren. Dazu gehören Ihre Sattelhöhe oder auch Ihre Fußposition auf dem Pedal. Andere Korrekturen lassen sich über das Austauschen von Ausrüstungsteilen verändern. Die Lenkerbreite oder auch die Steigung des Vorbaus an Ihrem Rad sind Beispiele dafür. Es gibt aber auch Probleme, die sich über Ihr Training verbessern lassen. Eingeschränkte Beweglichkeit lässt sich über Beweglichkeitstraining verbessern und auch die Kräftigung von Rücken- oder Nackenmuskulatur kann gute Erfolge bringen. Werden Sie hingegen gezwungen, sich an die Gegebenheiten des Fahrrades anzupassen, werden Leistung und Komfort vermutlich eher von kurzer Dauer sein. Lang andauernde Harmonie kann es nur dann geben, wenn das Fahrrad optimal an Sie angepasst wird. Gleichzeitig sollten Fehlstellungen an Ihrem Körper muskulär oder mit Hilfsmitteln (Einlagen, Radschuhumbauten etc.) angeglichen werden. Viele spüren die Beschwerden aber meist bei längeren Ausfahrten, bei starken Anstiegen oder wenn mit viel Druck gefahren wird. Das Koppeln des menschlichen flexiblen Bewegungsapparates an starre Drehbewegungen der Pedale ist biomechanisch recht ungünstig. Hinzu kommen die zum Teil extremen Sitzpositionen auf dem Triathlon bzw. Zeitfahrrad. Gerade aus diesen Gründen sollten Mensch und Maschine optimal aufeinander abgestimmt werden, um ohne Schmerzen und leistungsorientiert Ihre Sitzposition optimal nutzen zu können.

 

Das Bike-Fitting

Beim Bike-Fitting handelt es sich nicht um einen geschützten Namen, so dass sich jeder Mensch ungeachtet der Ausbildung als Biometriker bezeichnen könnte. Aus diesem Grund bieten solche Dienstleistungen neben Sportwissenschaftlern oder Orthopädietechnikern auch Fahrradhändler oder Seiteneinsteiger an. Inhaltlich variieren die angebotenen Untersuchungen und deshalb auch die Qualität des Angebotes sehr stark. Neben einfachen Videoanalysen oder Vermessungen gibt es auch komplexere Verfahren mit 3D Bildern, bei denen ergänzend die wirkenden Kräfte am Sattel oder an den Pedalen gemessen werden. Unabdingbar ist aber eine physiotherapeutischer Grunduntersuchung. Wird die bei einer Biometrie nicht durchgeführt, bleiben strukturelle oder funktionelle Defizite des Bewegungsapparates unberücksichtigt. Wenn Ihre Probleme aber gerade aufgrund von orthopädischen Problemen auftreten, wird Ihnen ein Bike-Fitting ohne orthopädische Grunduntersuchung nicht helfen können. Sie sollten deshalb darauf achten, dass Ihnen ein Anbieter vorab genau erklärt, was eine Biometrie enthält! Die optimale Sitzposition gibt es unserer Meinung nach nicht. Auch wenn die Räder viel Einstellungsspielraum haben, ist doch jeder Mensch verschieden. Das perfekte Rad gibt es „noch“ nicht, da sich die Radgeometrien, Pedal- und Lenkerformen sowie Sattel und Rahmengeometrien individuell der Ergonomie und Biometrie des jeweiligen Kunden anpassen müssen. Hier fehlt es noch an Firmen die sich der Individualität des Radfahrers und der Produkte dazu annehmen.

Zu den Bestandteilen eines Bike-Fittings gehört:

  • Check der Beweglichkeit, der Stabilität und der Körperstatik durch einen FMS, physiotherapeutische Tests und/oder ein orthopädischer Check-Up

  • Videos von hinten und von der Seite während der Fahrt auf dem Rad mit adäquatem Widerstand

  • Bestimmen von Kniewinkel, Hüftwinkel, Oberarm/Rumpfwinkel und ggfs. anderer Parameter durch ein Video- oder 3d-basiertes Verfahren. Eine rein statische Messung der Winkel auf dem Rad macht keinen Sinn!

  • Ggfs. Druckverteilung auf dem Sattel und ggfs. im Schuh

 

Tipps zur Radeinstellung

  • Es gibt keine pauschale Radeinstellung

  • Ihr Körperbau bestimmt die Radanpassung

  • Eine Biometrie sollte immer eine orthopädische Grunduntersuchung berücksichtigen

  • Sattelform und Lenkerbreite sind genau so wichtig, wie die Sitzhöhe

  • Alle Veränderungen sollten langfristig weiter kontrolliert werden

 

Fachsprache leicht gemacht

Biometrie – Beschreibt die Vermessung des menschlichen Körpers

Abduktoren – Muskulatur, die das Bein nach Außen abspreizt

Patella – Kniescheibe

 Empfehlungen fürs Bike-Fitting:

 

Erstveröffentlichung : 11/2009 in "Sport und Training aktuell"

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